Am 21.07.2024 organisierten wir gemeinsam mit dem Bündnis gegen rechten Terror Hessen eine Demo in Wächtersbach: Erinnern heißt Verändern – 5 Jahre Wächtersbach. In einem kurzen Nachbericht wollen wir auf die Demo zurückblicken und unseren Redebeitrag dokumentieren.
Am vergangenen Sonntag, den 21.07.2024, fanden wir uns mit circa 70 Antifaschist*innen in Wächtersbach ein, um an den versuchten Mordanschlag auf Bilal M. am 22.07.2019 zu erinnern und den Betroffenen unsere Solidarität zu zeigen.
Ein Rassist schoss vor fünf Jahren, nachdem er vorher in seiner Stammkneipe seine Tat ankündigte, auf Bilal und verletzte ihn lebensgefährlich.
Lautstark zogen wir durch die Wächtersbacher Innenstadt, um die Tat und ihre Verbindung zu rechtem Terror nach fünf Jahren nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. In den Redebeiträgen wurden die Kontinuität rechten Terrors, die vielbemühte Einzeltäterthese, das Versagen der Sicherheitsbehörden, aber auch die Anschläge von Hanau und München thematisiert und den Opfern rechter Gewalt gedacht.
Wächtersbach ist ein eindrückliches Beispiel dafür, warum eine antifaschistische Gedenkkultur notwendig bleibt. Die Stadt hat auf ein offizielles Gedenken verzichtet, da der Täter ja “von außerhalb sei”. Doch Erinnern heißt Verändern, was auch bedeutet, die rassistischen Zustände im Main-Kinzig-Kreis zu benennen und zu bekämpfen!
Deswegen ist unser Appell: Organisiert euch in antifaschistischen Strukturen! Der antifaschistische Schutz ist notwendig! Glaubt den Betroffenen rechter Gewalt und unterstützt sie!
Hier könnt ihr den Redebeitrag lesen, den wir auf der Demo gehalten haben:
Ohne Erinnern nur Vergessen. Ohne Trauer kein Kampf. Ohne gemeinsamen Protest nur Schweigen.
Morgen, am 22. Juli vor fünf Jahren, schoss ein Rassist auf den damals 26-jährigen Bilal M., der lebensgefährlich verletzt wurde. Überraschend? Nicht wirklich. Rechte Strukturen in Wächtersbach und im gesamten Main-Kinzig-Gebiet sind leider seit langem stark verankert und organisiert. Rechte Kräfte hier in der Region werden kaum an ihren Aktivitäten gehindert.
Aber der Täter sei ja vorher gar nicht als aktiver Nazi innerhalb dieser Netzwerke bekannt gewesen, so die Ausrede der Polizei. Sie hätten ja gar nichts ahnen können. Anders als die Cops gaben jedoch die Nachbar*innen des Täters an, dass sie die Tat nicht verwundere: Seine Gewaltphantasien und rechte Gesinnung seien den meisten in der Nachbarschaft vorher bereits bekannt gewesen. Der Wirt der Kneipe, in der sich der Täter direkt vor dem Anschlag so wie jeden Tag aufhielt, erzählte davon, dass er solche Ankündigungen öfter mal machte und niemand sie deshalb mehr ernst nahm, geschweige denn daran dachten, etwas dagegen zu unternehmen.
Rassismus und Faschismus gehören demnach in der Kneipe „Zum Martinseck“ zum Alltag. Selbst der Kneipenwirt verbreitete NPD-Slogans auf Facebook. Allein nach diesen Beobachtungen lässt sich nicht mehr bestreiten, dass extrem rechte Gesinnungen im Umfeld des Täters mindestens toleriert wurden. Doch nicht nur das Martinseck ist ein Hort des gesellschaftlichen Normalzustandes Rassismus. Rassismus findet man gerade überall dort, wo aktiv die Augen davor verschlossen werden. Rassismus zeigt sich sowohl im Alltag als auch in organisierten Strukturen von Nazis und Faschos sowie in unzähligen Fällen rechter Gewalt, insbesondere in den letzten Jahren. Wir wollen also kurz die Zusammenhänge in der Region umreißen, die den gescheiterten Mordanschlag auf Bilal M. ermöglicht haben – etwas, was die vermeintlichen Sicherheitsbehörden und politischen Verantwortlichen bis heute nicht geschafft haben oder vielmehr: nicht schaffen wollten.
Zunächst: Der Rassismus, den Betroffene auf täglicher Basis zu spüren bekommen, ist stark ausgeprägt. Eine Person berichtete kurz nach dem Anschlag vor 5 Jahren eindrücklich, wie sie in der Wächtersbacher Dorfjugend ständigem Alltagsrassismus ausgesetzt war. Ob nun in Form von Aussagen à la „Ich bin ja kein Nazi, aber…“ oder dem ständigen Beschall durch Böhse-Onkelz-Songs zwischen Kneipe und Kirmes. Nicht überraschend also, dass die AfD hier bei der aktuellen EU-Wahl knapp 23 Prozent bekommen hat – das sind 7 Prozentpunkte mehr als im bundesdeutschen Vergleich! – und bei der hessischen Landtagswahl letztes Jahr fast 30 Prozent. Dieser überall verankerte und überzeugte Rassismus bildet ein perfektes Entwicklungsbecken für die organisierte extreme Rechte rund um Wächtersbach. So hat Carsten M. aus Linsengericht die neonazistische Gang der „Aryans“ mitgegründet, ein bundesweit organisiertes, prügelndes Netzwerk. Sie jagen Linke mit Steinen,schüchtern politische Gegner*innen ein und bewaffnen sich und beteiligen sich an Naziaufmärschen. Auch ist aus dem Main-Kinzig-Kreis die Gruppierung „Freier Widerstand Hessen“ hervorgegangen. Sie sei die Nachfolgeorganisation der Kameradschaft „Nationale Sozialisten Main-Kinzig“. Neben „klassischen“ Rechten, haben sich in den letzten Jahren einige verschwörungsideologische Gruppen gebildet, die mit Demos und Social-Media rechte Hetze verbreiten. Am bekanntesten ist wohl die „Freiheitsbewegung Main-Kinzig-Wetterau“, zu denen der extrem rechte Büdinger Stadtverordnete Jochen Amann (ehemals AfD) als führende Figur gehören. Sie proklamierten noch im letzten Jahr, dass die »Aufnahme von Flüchtlingen aus nicht-europäischen Staaten« zu einer »Enthomogenisierung der Gesellschaft« führe und dazu »dass es in einem Zeitraum x keine weißen Deutschen mehr gibt«. Auch die Darstellung »gemischtrassiger Menschen in Werbung« sei Teil eines »globalistischen Plans«. Diese Gruppen sind nur wenige Beispiele für das verschiendartig ausgeprägte extrem rechten Spektrum, das sich in dieser Gegend weitestgehend ungestört bilden und organisieren kann. Sie, zusammen mit der breiten rechten Akzeptanz in der Bevölkerung, bilden das Fundament für vermeintliche „Einzeltäter“ wie in Wächtersbach, Hanau, in Wolfhagen oder in Halle.
Doch wir müssen das extrem rechte Fundament weder befeuern noch akzeptieren. Wir wollen es kollektiv zerschlagen. Das gemeinsame Gedenken kann einen Anfang dafür bieten. Dabei schließen wir an die letzten fünf Jahre Gedenken an. Wir haben vor fünf Jahren unsere Wut über die rassistische Tat artikuliert und artikulieren sie noch heute; unsere Wut über die Verhältnisse, in denen rassistische Taten nicht verhindert oder früh genug erkannt wurden; unsere Wut über die Polizei, der nichts besseres einfiel als Bilal M. noch im Krankenhaus als Täter bzw. Täter-Freund zu markieren. Und schließlich unsere Wut darüber, dass die Nazis und Rassisten sich nicht weit von hier noch immer ungestört aufhalten können und ungestört ihr Leben leben.
Heute zeigen wir geschlossen als Freund*innen, als Nachbar*innen und als Antifaschist*innen, dass Rassisten in Wächtersbach und im gesamten Main-Kinzig-Kreis oder sonstwo nicht ungestört ihr Unwesen treiben können. Wir müssen und wir werden weiter gemeinsam dafür kämpfen, dass extrem rechte Anschläge wie der auf Bilal M. vor 5 Jahren sich nicht wiederholen können. Es darf kein weiteres Wächtersbach geben. Und es darf kein weiteres Hanau geben. Antifaschistisches Gedenken bringt zusammen, unsere gemeinsame Trauer macht uns solidarisch und unsere kollektive Wut stark.