Am 09. Oktober 2023 haben wir eine Rede auf der “Kundgebung in Gedenken an die Opfer des rechten Anschlags in Halle” gehalten, die vom OAT Frankfurt organisiert wurde. Die vollständige Rede dokumentieren wir hier.
Heute ist der Jahrestag des antisemitischen Anschlags von Halle. Unsere Gedanken sind bei Jana Lange und Kevin Schwarze, ihren Familien und Angehörigen. Unsere Gedanken sind bei den Überlebenden, die nur durch die Holztür der Synagoge gerettet wurden.
Noch vor 4 Tagen wäre das hier eine komplett andere Rede geworden. Wir hätten auf den antisemitischen Charakter der Tat aufmerksam gemacht. Wir hätten davon gesprochen, dass es deutsche FaschistInnen sind, die in diesem Land noch immer die größte Bedrohung für jüdisches Leben sind. Wir hätten die AfD als das bezeichnet, was sie ist: nämlich als den parlamentarischen Arm des Rechtsterrorismus – und wir hätten die Gefahr betont, die von den faschistischen Wahlerfolgen ausgeht. Wir hätten zur antifaschistischen Einheit aufgerufen.
Und das alles wäre und ist heute bestimmt noch richtig. Doch jedes Wort klingt leer und jeder Satz verhallt neben dem ohrenbetäunden Lärm und der lähmenden Angst im Angesicht des antisemitischen Terrors in Israel.
Tausende Raketen auf Wohngebiete. Über 700 Menschen ermordet. Unzählige Fälle sexualisierter Gewalt, Misshandlungen und Entführungen. Shoah-Überlebende, die als Geiseln nach Gaza verschleppt werden. Videos von barbarischen Hinrichtungen, misogyner Gewalt und Leichenschändung. Das antisemitische Grauen war nie weg, doch am Wochenende drang es mit brachialer Gewalt in unsere Gegenwart. Denn die Hamas und ihre Verbündeten haben deutlich gezeigt, was Antizionismus in der Praxis bedeutet: die Vernichtung von so viel jüdischem Leben wie möglich.
Aber der antisemitische Horror endet nicht in Israel. In verschiedenen Städten auf der ganzen Welt zogen Menschen auf die Straßen und feierten das Pogrom, die Massaker, die kaltblütigen Morde. Samidoun, die Gefangenenhilfe der vermeintlich linken Terrorpartei PFLP, verteilte in Berlin sogar Süßigkeiten, um ihren blutigen Widerstand gebührend zu feiern. Es gibt erste Berichte über Angriffe auf jüdische Demos und jüdische Einrichtungen – und sie werden sich häufen. Die Solidarität gilt vieler Orts nicht den jüdischen Opfern der Gewalt, sondern den antisemitischen und misogynen Tätern der Hamas.
Und auch in der radikalen Linken, unter Antifaschist*innen, ja teilweise bei unseren eigenen Genoss*innen hat sich gezeigt, was wir eigentlich gewusst, was wir verdrängt oder als aushaltbaren Widerspruch abgetan haben: linker Antisemitismus.
Denn wir haben wenige linke Solidaritätsbekundungen mit den Betroffenen gelesen. Dafür gab es umso mehr Täter-Opfer-Umkehr. Es gab kaum Verurteilung der antisemitischen Morde, ohne das ein großes „…aber die Juden“ dahinter stand. Gruppen und Personen, für die sonst Betroffenensolidarität an erster Stelle steht, übten sich in kalter, empathieloser „Analyse“. Aus diesen vermeintlichen Analysen resultierten meist Schuldzuweisungen – nicht an die Mörder von der Hamas, sondern an Israelis, Zionist*innen, die israelische Regierung. Schuldzuweisungen, die eigentlich alle sagen: „Die Juden sind doch selber Schuld“. Wir lasen und hörten klammheimliche und offene Freude darüber, dass endlich ernst gemacht würde mit dem „From the river to the sea“ oder dass nun die praktische Dekolonisierung gekommen sei. In Frankfurt fand gestern sogar eine antifaschistische Demonstration zur Hessenwahl statt, bei der uns eine Solidaritätserklärung mit den Jüd*innen in Israel untersagt wurde. Man wolle nicht spalten. Lieber Seite an Seite mit Antisemit*innen laufen, als den größten judenfeindlichen Pogrom seit der Shoah zu thematisieren.
Was bleibt ist ein Haufen Scherben – insbesondere für jüdische Antifaschist*innen, die nicht nur den antisemitischen Terror erleben, sondern auch die Entsolidarisierung, ja den Verrat ihrer vermeintlichen Genoss*innen. Gerade jetzt bräuchte es eine starke antifaschistische Einheit. Aber wie weiter mit selbsternannten Antifaschist*innen und vermeintlichen Genoss*innen, die nicht einfach antisemitischen Terror verurteilen können, die keinen Platz für Betroffenensolidarität haben, wenn die Opfer Jüd*innen in Israel sind? Für uns ist klar: es kann kein weiter so, keine Relativierung und kein Aushalten von linkem Antisemitismus mehr geben.
Wir sind in Gedanken bei Jana Lange und Kevin Schwarze, ihren Familien und Angehörigen, die vor 4 Jahren bei dem antisemitischen Terror Anschlag in Halle ermordet wurden. Unsere Gedanken sind bei den Überlebenden, die nur durch die Holztür der Synagoge gerettet wurden. Unsere Gedanken sind bei den unschuldigen Zivilist*innen in Gaza, die in diesem Krieg sterben und leiden. Aber heute sind unsere Gedanken und Herzen insbesondere bei den über 700 ermordeten Israelis, den Verletzten, den verschleppten Geiseln und ihren bangenden Familien und Angehörigen.
Am Jahrestag des antisemitischen Anschlags von Halle stehen wir hier in voller Solidarität mit allen Jüd*innen in Israel und weltweit. Antifa bedeutet für uns der bedingungslose Kampf gegen jeden Antisemitismus.